Automatisierte Steuerbescheide im Test

Revolution oder Rohrkrepierer? Das Kasseler Experiment zur automatischen Steuererklärung

Grauer Hintergrund mit Schriftzug Blog und Portraitbild des Autors. Bild: @tax&bytes

Jedes Jahr aufs Neue stehen Millionen deutscher Steuerpflichtiger vor derselben ungeliebten Aufgabe: Der Abgabe ihrer Einkommensteuererklärung. Was für die einen eine lästige Pflicht darstellt, ist für andere ein undurchdringlicher Dschungel aus Formularen, Belegen und Rechtsnormen. Seit jeher gilt das deutsche Steuerrecht zu den komplexesten der Welt: Ein System, das selbst Fachleute an ihre Grenzen bringt.  

In diesem Kontext mutet das Pilotprojekt des Finanzamts Kassel geradezu revolutionär an: "Die Steuer macht jetzt das Amt!" – so der vollmundige Slogan von Finanzminister Alexander Lorz. Ausgewählte Bürgerinnen und Bürger erhalten erstmals einen automatisch erstellten Vorschlag für ihre Einkommensteuerfestsetzung 2024, ohne zuvor eine eigene Steuererklärung abgeben zu müssen.  

Doch diese vermeintliche Revolution wirft bei näherer Betrachtung grundlegende Fragen auf: Handelt es sich um einen echten Durchbruch im Kampf gegen die deutsche Steuerbürokratie oder lediglich um ein politisches Feigenblatt, das die strukturellen Probleme des deutschen Steuersystems überdeckt? 

Das Pilotprojekt im Detail

📚 Grundlagen und Verfahrensweise 

Das Kasseler Experiment basiert auf den Möglichkeiten der Veranlagung von Amts wegen. Vergleichbare Vorstöße initiierten in der Vergangenheit bereits andere Bundesländer wie beispielsweise Mecklenburg-Vorpommern mit der freiwilligen Amtsveranlagung für Inlandsrentner, aber auch der Nachbarstaat Österreich mit der antragslosen Arbeitnehmerveranlagung.  

Die Besonderheit des aktuellen Projekts liegt im proaktiven Ansatz: Anstatt zu warten, bis Bürger ihre Steuererklärung einreichen, erstellt das Finanzamt eigenständig einen Veranlagungsvorschlag auf Basis bereits vorhandener Daten.  

Der Prozess ist denkbar einfach: Die ausgewählten Steuerpflichtigen erhalten einen fertigen Steuerbescheid-Entwurf per Post. Stimmen sie diesem zu, müssen sie nichts unternehmen – nach vier Wochen wird automatisch ein rechtskräftiger Einkommensteuerbescheid erlassen. Widersprechen sie, können sie wie gewohnt eine eigene Steuererklärung abgeben.

Teilnehmerkreis und Auswahlkriterien 

Die Auswahl der Teilnehmer folgt strikten Beschränkungen: Berücksichtigt werden nur Steuerpflichtige, die zur Abgabe einer Steuererklärung verpflichtet sind, nicht steuerlich beraten werden und deren relevante Steuerdaten dem Finanzamt bereits vollständig vorliegen. Diese Kriterien grenzen den Teilnehmerkreis erheblich ein und schaffen bereits die ersten systematischen Ungleichbehandlungen.  

Faktisch profitieren wahrscheinlich hauptsächlich Arbeitnehmer mit einfachen Steuerverhältnissen, während komplexere Fälle – etwa Selbstständige, Vermieter oder Steuerpflichtige mit hohen Werbungskosten – ausgeschlossen bleiben. Dies wirft die Frage auf, ob hier nicht eine "Privilegiengesellschaft 2.0" entsteht.  

🌍 Internationale Perspektive - Das „Estland-Modell“: Vollautomatisierung als Benchmark?

Estland gilt als Pionier der digitalen Steuerverwaltung. Seit 2000 können estnische Bürger ihre Steuererklärung online in durchschnittlich drei bis fünf Minuten abgeben: die Daten sind bereits vorausgefüllt. Das System basiert auf einer umfassenden digitalen Infrastruktur und einem vereinfachten Steuersystem, das fundamental anders strukturiert ist als das deutsche. Der entscheidende Unterschied: Estland hat sein gesamtes Steuersystem auf Digitalisierung ausgerichtet, während Deutschland versucht, ein analoges System nachträglich zu digitalisieren. Die strukturellen Voraussetzungen könnten unterschiedlicher nicht sein.  

Österreich und andere EU-Staaten: Schrittweise Annäherung 

Auch andere EU-Staaten experimentieren mit vorausgefüllten Steuererklärungen, jedoch meist in Form einer digitalen Unterstützung beim Ausfüllen, nicht als vollständiger Ersatz der Steuererklärung.  

Neben der bereits erwähnten antragslosen Arbeitnehmerveranlagung Österreichs ist die vorausgefüllte Steuererklärung Schwedens zu nennen. Diese schrittweise Herangehensweise erscheint pragmatischer und in der Breite umsetzbarer als der deutsche "Alles-oder-Nichts"-Ansatz.  

🧠 Die Benachteiligung der „Vergesslichen“

Das Kasseler Pilotprojekt schafft ein nicht zu unterschätzendes Problem: Wer den automatischen Veranlagungsvorschlag des Finanzamts akzeptiert, wird unter Umständen systematisch schlechter gestellt als jemand, der eine detaillierte Steuererklärung abgibt. Diese "Benachteiligung der Vergesslichen" entsteht, weil die automatisierte Veranlagung nur die dem Finanzamt bereits bekannten Daten berücksichtigt.  

Dabei fallen wichtige Abzugsmöglichkeiten unter den Tisch: Werbungskosten über der Pauschale bleiben ebenso unberücksichtigt wie nicht elektronisch übermittelte Sonderausgaben für Spenden oder Kinderbetreuung. Auch außergewöhnliche Belastungen durch Krankheitskosten oder Pflegeaufwendungen finden keinen Eingang in den automatischen Bescheid. Ein Pendler mit hohen Fahrtkosten oder eine alleinerziehende Mutter mit Betreuungskosten zahlen so deutlich mehr Steuern als nötig.  

Besonders problematisch ist die soziale Dimension dieses Systems. Steuerwissen korreliert stark mit dem Bildungsstand, wodurch bildungsferne Schichten systematisch benachteiligt werden. Während Akademikerfamilien ihre steuerlichen Möglichkeiten kennen oder professionelle Beratung nutzen, vertrauen weniger gebildete Bürger oft auf die vermeintliche Fürsorge des Staates (s. dazu im allgemeinen Kontext).  

Aus dem Kasseler Projekt resultieren durch diese Passivität höhere Steuern, sodass möglicherweise Anreize zur Unwissenheit geschaffen werden.  

🏛️ Systemische Probleme des deutschen Steuerrechts - Komplexität als Innovationshemmnis 

Mit den – neben den ohnehin schon zahlreich vorhandenen Gesetzen – nahezu unzähligen Richtlinien und Verwaltungsanweisungen ist das deutsche Steuerrecht zu einem undurchdringlichen Dickicht geworden. Diese Komplexität macht echte Digitalisierung so gut wie unmöglich: automatisierte Systeme können nicht alle Sonderfälle und Ausnahmeregelungen erfassen. Das Kasseler Projekt löst dieses Grundproblem nicht, sondern umgeht es durch Beschränkung auf Einfachfälle. Eine nachhaltige Reform müsste dagegen bei der Vereinfachung des Steuerrechts selbst ansetzen. 

Auswirkungen auf die Steuerberatungsbranche 

Die Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungsbranche in Deutschland erwirtschaftete im Jahr 2024 ein Marktvolumen von über 21 Milliarden Euro (s. consulting.de/juve.de). Eine flächendeckende Automatisierung könnte massive Arbeitsplatzverluste zur Folge haben, ohne dass adäquate Alternativen geschaffen werden. Gleichzeitig herrscht bereits heute ein akuter Fachkräftemangel in der Steuerberatung. Die Digitalisierung könnte dieses Problem verschärfen, wenn qualifizierte Fachkräfte ihre Perspektiven schwinden sehen.  

🔍 Bewertung und Ausblick - Grenzen und Potentiale des Kasseler Ansatzes

Das Pilotprojekt verdeutlicht sowohl die Chancen als auch die Grenzen einer automatisierten Steuerveranlagung in Deutschland. Positiv ist der Ansatz, einfache Standardfälle zu automatisieren und damit Verwaltungsressourcen freizusetzen.  

Problematisch wird es jedoch, wenn diese begrenzte Lösung als Allheilmittel vermarktet wird. Die strukturellen Probleme des deutschen Steuersystems – seine immense Komplexität, die fehlende Digitalisierung der Verwaltung und die unzureichende Dateninfrastruktur – bleiben ungelöst. 

Notwendige Reformen für eine erfolgreiche Skalierung 

Eine erfolgreiche Skalierung der automatisierten Veranlagung erfordert grundlegende Systemreformen

  1. Vereinfachung des Steuerrechts: Ohne drastische Reduzierung der Komplexität bleibt die Automatisierung auf Randbereiche beschränkt.  

  1. Moderne Dateninfrastruktur: Deutschland benötigt eine einheitliche digitale Identität und bessere Datenschnittstellen zwischen Behörden und Unternehmen.  

  1. Rechtssicherheit: Klare gesetzliche Regelungen für automatisierte Verwaltungsverfahren sind unerlässlich.  

  1. Datenschutz und Transparenz: Bürger müssen Kontrolle über ihre Daten behalten und Algorithmen nachvollziehen können.  

FAZIT

👉 Evolution statt Revolution

Das Kasseler Pilotprojekt ist kein Quantensprung, sondern eher ein vorsichtiger Schritt in Richtung Digitalisierung.  

Positiv hervorzuheben ist, dass von offizieller Seite ehrlich über die Grenzen des Projekts kommuniziert wird. Das Experiment kann wertvolle Erkenntnisse liefern: allerdings nur, wenn seine strukturellen Beschränkungen ernst genommen werden. Eine nachhaltige Reform der deutschen Steuerverwaltung erfordert langfristige Investitionen in Vereinfachung, Digitalisierung und Transparenz. Das Kasseler Projekt kann ein Baustein dieser Reform sein, mehr aber auch nicht. Die große Revolution der deutschen Steuerverwaltung steht noch aus. 

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